Am frühen Abend hatten sich schließlich alle Dorfbewohner vor dem Holztempel der Drei Uralten eingefunden. In Njoerhug wurde noch den Göttern gehuldigt, die der Rest der Mumdiduden schon vergessen hatte. Niemand fehlte. Nur die zwei jungen Männer, die zur Wache auf dem Turm eingeteilt waren, sahen dem Fest vom Winde zu Tränen gerührt zu.
Rulmen Crorstzar war der Sohn von Mikarge, dem Baumeister des Dorfes, dieser war der Bruder des Häuptlings und zugleich sein treuester Gefolgsmann. Rulmen ärgerte sich, dass das Los für die Wache auf ihn gefallen war, gerade bei einer gesellschaftlich so wichtigen Veranstaltung. Seine Chancen auf die Häuptlingswürde waren gut, doch hatte er weder Frau noch Kinder.
Die Frauen der Warskogedir konnten selbst bestimmen, wen sie heiraten wollten; Heiratspolitik zu betreiben lag nun einmal nicht im Wesen der Frauden. Rulmen musste sich selbst darum kümmern und heute wäre ein guter Tag dafür gewesen! Dazu musste er sich noch mit diesem verschlafenen Jäger abgeben, dem er absolut nichts zu sagen hatte.
Yrdokaan war nicht unglücklich über die Einteilung zur Wache gewesen, er liebte den weiten Blick der seine Gedanken auf Reisen schickte. Er wusste, dass er, genau wie alle anderen hier nie weggehen würde. Wo hin ginge man? Durch die Länder der Dschjubi zur Großen Schlangenflucht, über die Vier Stufen des Wahnsinns, die Treppe der Götter hinab, in die Fremde.
Er erinnerte sich wieder an die Geschichten des Dellzing, der sich Andronikos Dekurgos nannte, in Wirklichkeit aber Greinherd hieß. Andronikos, der einzige Ausländer im Dorf, war ursprünglich Arzt gewesen, doch hatte er mit der vor Gesundheit strotzenden Bevölkerung Njoerhugs nur selten zu tun.
Nach Njoerhug gekommen war Andronikos vor etlichen Jahren mit einer Handelskarawane, die er medizinisch betreut hatte. Dem Zug aber war kein Glück beschieden. Nachdem sämtliche Beteiligten durch Krankheiten, Kälte und die Folgen der gewaltsamen Übergriffe einiger fraudischer Clans dahingerafft worden waren, blieb der brekschanische Arzt alleine in der Wildnis zurück.
Der Häuptling von Njoerhug und ein paar seiner Krieger hatten Andronikos bei der Jagd halbtot aufgefunden, ihn wegen seiner Größe für ein Kind gehalten* und mitgenommen. Nachdem er von der Hexe gesund gepflegt worden war, stellte man ihn vor die Wahl, als Leibeigener des Häuptlings zu bleiben, oder als Opfer für die Ahnen zu sterben.
Er kam aus dem Königreich Brekhnan, welches er in seinen Erzählungen immer das „Goldene Kendolien“ nannte. Es musste ein Land der Wunder sein; die Regionen der saftig grünen Hügel, der goldgelben Weizenfelder, stolzer, schwer gepanzerter Ritter und fleißiger, fröhlicher Bauern. Aber es war auch das Reich der Zauberer; ein Land, dessen Westgrenze in stetiger Gefahr schwebte vom Land der Untoten verschluckt zu werden.
Yrdokaan und Rulmen verbrachten vier Stunden auf dem Turm bis sie von zwei ungewöhnlich stillen Kriegern abgelöst wurden. Während dessen war unten auf dem Dorfplatz nicht viel passiert. Der Großteil der Dorfbewohner fläzte inzwischen betrunken oder zumindest beschwipst auf den vor dem Tempel ausgebreiteten Fellen.
*Hierzu muss man wissen, dass die Dellzing (fälschlich oft auch: Brekschaner) kleinere Menschlinge, die Weißen Frauden (auch: Dschjubi oder Mumdiduden) hingegen ein sehr hochgewachsenes Volk sind.